Montag, 13. April 2015

"Meine Kinder"

...so nenne ich meine Schützlinge gerne.
Denn mittlerweile hat sich ein enges Verhältnis zwischen ihnen und mir entwickelt. Mir wird Respekt entgegengebracht und ich spüre, dass sich gegenseitiges Vertrauen aufgebaut hat. Auch wenn ich hin und wieder auf den Arm genommen oder ausgelacht werde. Sei es, weil ich nicht verstehe, was sie sagen, weil sie nicht verstehen, was ich auf vermeidlich klingendem Arabisch versuche, zu sagen, weil ich mir die Nase putze (finden sie super witzig; ich glaube man putzt sich hier die Nase in der Regel nicht) oder weil mir aus Versehen mal das T-Shirt hochrutscht und man minimal Haut sehen kann (wenn das passiert, kriegen sie sich vor Lachen gar nicht mehr ein; vergleichbar mit dem peinlich berührten Kichern der ersten Sexualstunde eines jeden Schülers). Dies alles lässt in mir das Gefühl aufkommen, wie eine große Schwester für sie zu sein.
Und gerade aus diesem Grund, lag es mir sehr am Herzen, mehr über "drari diali" meine Kinder zu erfahren.

Seit Anfang Februar darf ich mit Najat, unserer Sozialassistentin, auf Familienbesuche gehen.
In dieser Zeit konnte ich sehen, wie die Kinder leben, man kann viel mehr sagen leben müssen.
Mein aller erster Besuch war unglaublich interessant und schockierend zugleich


 
Ein ganz besonderer Arbeitstag

„Dienstagmorgen.
Ich mache mich fertig, um auf die Arbeit zu gehen. Heute werde ich sehen, wo und vor allem wie die Kinder leben.
Bayti.
Najat und ich machen uns auf den Weg. Erstes Ziel: Mellah.
Wir durchschreiten das Bab Doukkala und biegen in eine kleine dunkle Gasse ein, folgen ihr ein paar Hundert Meter und stehen schließlich vor den Ruinen und herabgekommen Häusern von Mellah. Ich erspähe eine kleine dreckige Gasse.
((Witzig, wenn wir jetzt dort reingehen würden. Oh, wir gehen dort rein!))
Wir versuchen, uns einen Weg durch die schlammige und dunkle Gasse zu bahnen.
Fäkaliengeruch steigt in meine Nase. Ich versuche durch den Mund zu atmen
 Auch das fällt mir schwer, denn ich muss aufpassen, dass sich die Fliegen, die dort zu unzähligen in der stehenden und drückenden Luft umhersurren, nicht in den geöffneten Mund verirren.
Mein Blick ist auf den Boden gerichtet.
Zum einen, weil es meiner ganzen Konzentration bedarf, nicht in Pfützen zu treten, von denen ich lieber nicht wissen möchte, welche verschiedenen Flüssigkeiten sich dort zu einer großen vereinen und zum anderen, weil ich mich den Blicken dubioser Gestalten, welche vor den Häusern  sitzen und scheinbar nichts tun, zu entziehen versuche.
Wie ich später erfahren soll, zum Größten Teil Prostituierte und Drogenhändler, die alle das Gleiche tun. Auf Kunden warten. 
Wir sind da.
Najat zückt ihre Taschenlampe.
Mit der einen Hand leuchtet sie uns den Weg mit der anderen hält sie sich ein Stofftuch vor Nase und Mund. Ich glaube, auch ihr fällt das Atmen schwer.
Es geht eine dunkle und poröse Treppe hinauf. Oben angekommen empfängt uns eine Frau; die Mutter eines Geschwisterpaares, welches zu uns zu Bayti kommt.
Sie führt uns in einen Raum.
Auch hier; Fäkaliengeruch und Fliegen.
Eine kleine Glühbirne leuchtet den Raum notdürftig aus, denn durch das einzige kleine verschmierte Fenster fällt kaum Licht.
Der kleine Fernseher läuft (wie soll es auch anders sein?). Wir setzen uns auf die typischen marokkanischen Sofa, die zugleich als Betten genutzt werden.
Ich lasse meine Blicke schweifen.
Küchenutensilien, eine Unmenge schmutziger Klamotten, und, in meinen Augen, Krimskrams stapeln sich zu Dutzenden in dem Raum. Ich brauche ein paar Augenblicke, bis ich merke, dass sie nichts weiter besitzen.
Sie essen hier, sie schlafen hier, sie leben hier.


Bei dem Gespräch, welches Najat mit der Mutter führt höre ich nicht zu; klar, ich versteh' es auch gar nicht, aber viel mehr bin ich von meinen eigenen Gedanken abgelenkt.

((Das kann doch nicht sein. Hier kann man nicht leben. Oder doch? Okay, sie überleben, aber leben sie? Ich wusste, die Kinder haben es nicht leicht, aber das habe ich nicht erwartet. Ich schäme mich; ich bin hier, um zu helfen, aber was mache ich hier eigentlich? Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, bin ich doch nur mitgekommen, um genau so etwas zu sehen. Und jetzt? Was fange ich damit an? Jetzt habe ich nur bestätigt bekommen, dass es Menschen gibt, denen es schlecht geht. Und jetzt komm ich auch noch hier her, um mir das Elend anzusehen.
Was ist, wenn die Kinder krank werden? Hier in diesem kalten stickigen Raum, hat man doch keine Chance, gesund zu werden geschweige denn seine Ruhe zu haben. Wie hat die Familie das im Winter gemacht? War es nicht kalt und nass? Wo ist der Vater? Was machen die Kinder, wenn sie am Wochenende nicht die Möglichkeit haben, zu Bayti zu kommen? Hier können sie sich unmöglich den ganzen Tag aufhalten; hier will man sich unmöglich den ganzen Tag aufhalten. ))

Das Licht geht aus. Stromausfall

((Belize, du musst Abstand davon nehmen. Du bist kein schlechter Mensch, nur weil es dir besser geht. Auch ist es nicht verwerflich, wenn man sich der Armut bewusst wird, indem man sich, wenn auch nur für kurze Zeit, ein Bild von ihr verschafft. Nein, im Gegenteil; nutze das, was du gesehen hast, um die Kinder mit anderen Augen zu sehen, wenn sie mal wieder nicht auf dich hören wollen und nur Quatsch machen. Denn Bayti bietet ihnen die Möglichkeit, einfach nur das zu machen, was sie eigentlich machen sollten; Kind sein. Sie sollten sich nicht mit Problemen und Sorgen rumschlagen.
Und vergiss nie, dass es nichts weiter als purer Zufall und somit großes Glück und Privileg ist, in das Leben hineingeboren zu sein, welches du führst.))

Den Rest des Tages bin ich eher still.
Zurückhaltend.
In Gedanken vergraben.















Schicksale

Auf den Besuchen mit Najat habe ich vieles gesehen, was mich zum Nachdenken angeregt hat. Verschiedene  Familien und deren Probleme kennengelernt und gesehen, was die Kinder tagtäglich durchleben müssen.

Da ist zum Beispiel dieses  12-jährige Mädchen, welches ursprünglich vom Land stammt.
Weil sein Vater seine Mutter vor seinen Augen umgebracht hat und deswegen im Gefängnis sitzt, lebt es  jetzt bei seinem Onkel und seiner Familie in Essaouira.
Leider wurde ihm von der Frau seines Onkels die Rolle einer „petite bonne“ aufgetragen.  

petite bonne – kleine Gute

Dienstmädchen
Mädchen, die im Haushalt arbeiten; kochen, putzen, waschen, auf Kinder der Familie achten.
Oftmals werden petites bonnes misshandelt.
 
Oder dieses 11-jährige Mädchen mit seinen zwei kleinen Brüdern, die wie die drei Musketiere sind. Sie kümmert sich liebevoll um ihre Brüder und die kleinen Jungs sind schon jetzt in die Rollen der Beschützer ihrer großen Schwester geschlüpft.
Ihr Vater arbeitet teilweise am Hafen. Das gewonnen Geld gibt er jedoch für Frauen und Alkohol aus. Er schlägt seine Frau vor den Augen seiner Kinder und vernachlässigt diese. Er ist nicht mehr im Stande, seine Familie zu ernähren. Es kommt schon so weit, dass er die wenigen Habseligkeiten, die die Familie noch besitzt (Möbel und Dinge, die einen, wenn auch nur kleinen, Gewinn abwerfen könnten) verkauft, um an Geld, welches er für seine Süchte ausgeben kann, zu kommen.

Allerdings gibt es auch Kinder, die auf den ersten Blick keine Probleme in ihrer Familie haben. Schaut man jedoch genauer hin, entdeckt man versteckte kleine Schwierigkeiten, die sich zusammengefasst dann doch als problematisch erweisen.

Nehmen wir den 14-jährigen Jungen; auf den ersten Blick scheint alles in Ordnung zu sein; harmonisches Familienleben. Keine offenkundigen Probleme. Er geht sogar regelmäßig zur Schule.
Leider hält er sich den Rest der Zeit nur auf der Straße auf und kommt selbst nicht zu Bayti. Er mache Probleme heißt es von Seiten der Mutter.
Aufgrund dessen kümmert sich sein Vater nicht mehr um ihn/ seine Familie. Er sorgt zwar für das Wohl seiner Familie, ist aber fast nie zu Hause. Er möchte nicht mehr wirklich etwas mit seiner Familie zu tun haben; möchte die Verantwortung nicht mehr tragen. Ihm ist alles gleichgültig geworden. 



Ich hoffe, ich konnte Euch einen kleinen Einblick in die Arbeit Baytis geben und zeigen, dass es wichtig ist, dass es Menschen gibt, die es sich zur Aufgabe machen, sich für die Rechte der Kinder einzusetzen und diese schützt und ihnen ein Platz der Sicherheit und des Vertrauen bieten.

So weit erstmal...

Liebe Grüße,
Belize






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